Komponieren als Zwangshandlung

Ein Gespräch mit Philipp Maintz


takte: Worin besteht der Auslöser Ihrer kompositorischen Arbeit, gibt es Themen, an denen Sie sich entzünden?

Philipp Maintz: Es ist mittlerweile zu einer Zwangshandlung geworden: Ich kann einfach nicht ohne! Früher stand zunächst der Wille, etwas machen zu wollen, im Vordergrund, daraus ist die Notwendigkeit, etwas machen zu müssen, geworden. Mit 16 bis 18 Jahren habe ich mich gefragt, will ich lieber Komponist oder Maler werden. Ich hab mich dann für das Komponieren entschieden, weil das weniger Dreck macht – was nicht stimmt, wenn man die Radierkrümel betrachtet.

Sie radieren aber doch nicht auf dem Rechner!

Ich schreibe zunächst alles schön mit der Hand, erst später mit dem Computer.

Warum dann also der Rechner?

Ein einfaches Beispiel: Ich verändere ein rhythmisches Modell, doch multipliziere ich nicht alles mit dem gleichen Faktor, so dass eine simple Vergrößerung dabei heraus kommt, sondern ich suche einen Wert, um den kürzere Tondauern weiter verkürzt, längere entsprechend verlängert werden. Natürlich kann man das auch umständlich mit dem Taschenrechner ermitteln. Hier ist der Computer sehr hilfreich, vor allem, wenn man sich ein entsprechendes Programm geschrieben hat, in das man nur den „Spreiz-Stauch-Faktor“ eingeben muss, um sofort das Ergebnis zu erhalten. Mit dem neuen rhythmischen Modell gehe ich dann wie ein Maler um, der sich die Farben angemischt hat.

Aber den größeren Nutzen in der Verwendung des Computers beim Komponieren sehe ich darin, dass er mir immer wieder die Fragestellung abverlangt: Was will ich eigentlich? Der Rechner druckt mir nicht eigenständig die Partitur aus, vielmehr muss ich ihm ständig eingeben: Das sollst du machen. Ich gehe von Regeln aus, die ich selbst aufstelle und anwende. Beim Überprüfen des Ergebnisses greife ich überall dort ein, wo mir etwas nicht gefällt, ich „entregle“ dann, streiche, verändere so, wie es mir instinktiv richtig erscheint. Vielleicht stoße ich dabei auf Lücken oder Schwächen im Konzept. Dann muss ich die Regeln differenzieren.

Wie integrieren Sie Gesangstexte in eine solche Vorgehensweise? Welche Erfahrungen konnten Sie bei der Komposition der ersten fertiggestellten Nummer aus dem Zyklus „Septemberalbum“ nach Gedichten von Ron Winkler machen?

Lyrik kaufe ich gern stößeweise. Ich erlebe es so, dass ich einen dieser Gedichtbände aufschlage, und wenn es nicht gerade „Krempel“ ist, dann imaginiere ich beim Lesen entweder direkt Musik oder es ergibt sich ein Aura-Abdruck, den eine Musik hinterlassen könnte, ohne dass ich zunächst weiß, wie sie wirklich klingt. Gerade dies ist noch spannender, da ich dann gefordert bin, nachzuforschen, welcher Klang zu diesem Abdruck gehört oder passt. Ron Winklers Gedichte haben mich mit ihrer zerbrechlich, gläsernen Sprache spontan angesprungen, da ich mich ihnen mit meinem Komponieren nahe fühle. Gleich beim ersten Lesen hatte ich den Eindruck: Das schreit danach, gesungen zu werden!

Wie gelingt es Ihnen, bei der Verbindung von Wort und Musik die semantische Ebene des Textes zu wahren?

Ich habe dem Gedicht den Sprechrhythmus entrissen, ihn durch meine üblichen Algorithmen gejagt, einen großen Berg Material dazu angelegt und dann mit dem Pinsel gezeichnet, wie ich es haben möchte. Der ganze Klaviersatz ist letztlich bestimmt aus Ableitungen des Sprechrhythmus. Ein Gedicht gibt einem eine gewisse Struktur vor. Warum soll ich mir als Komponist beim Andocken diese Struktur nicht nutzbar machen, indem ich sie in Musik übertrage?

Ist dieser Zyklus „Septemberalbum“ eine Station auf dem Weg, der Sie in Richtung Bühnenwerk führen soll?

Ja, ganz klar! Mich fasziniert das Musiktheater sehr!

Zwischenfrage: Sie sprechen von „Musiktheater“, höre ich daraus ein Umgehen des Begriffs „Oper“?

Ich werde das Ding, das wahrscheinlich jeder andere als „Musiktheater“ bezeichnen würde, „Oper“ nennen. Von der Konzeption her stelle ich mir einen offenen Beginn vor mit Live-Elektronik oder einer Art Klanginstallation im Foyer, von dem aus sich das Geschehen in den Saal verlagert. Die Idee, der Anstoß kam von Peter Ruzika. Ich war dafür sehr schnell zu haben, wobei mir ein „Grundgefühl“, wie eine solche Oper beschaffen sein könnte durch den Bauch geisterte. Ein wenig bin ich  bestimmt von der Vorstellung, dass meine Oper ein Stück weit auch ein „Kommentar zur Zeit“ sein möchte...

Als schöpferischer Mensch entdeckten Sie sich vermutlich stets auf der Suche nach Inspirationsgebern oder Stimulanzien.

Ich gehe noch einen Schritt weiter, denn ich habe das Gefühl, meine Umwelt wie durch ein Sieb wahrzunehmen, auf dem alles unter diesem Aspekt gesprüft wird: Kann ich’s gebrauchen oder nicht. Das können auch mathematische, physikalische Dinge sein. Ich habe mich für eine Weile durch Fraktalmathematik „gefressen“, wobei ich nicht alles verstanden habe, doch hat dies in mir einen Widerhall ausgelöst, der für mich nützlich war, indem er eine Reibefläche für einige Ideen gewesen ist.

Und dies führt wieder zur Oper: Nehmen wir hierfür die Metapher einer Landschaft, in der verschiedene Personen stehen, die ihren Zustand beschreiben, die Handlung erwächst aus diesen Beschreibungen und aus deren Verknüpfung. – Aus der Beschäftigung mit der Theorie der Relativität des Raumes und des Zeitverlaufs in Umgebung von Massekörpern hat sich für mich ein Bild ergeben: „Oper“ stelle ich mir als Gebäude vor, in dem diese „Massekörper“ stehen, die durch ihre pure Anwesenheit den Raum verziehen und verzerren ...

... indem sie sich äußern.

Genau! So etwas hinterlässt Spuren und gerät zu einem höchst dynamischen Verlauf. Wenn man einen Stein ins Wasser wirft, ist die Oberfläche hinterher auch nicht mehr die gleiche wie vorher.



Die Fragen stellte Michael Töpel. Das Gespräch wurde am 17. März 2006 in Berlin geführt.